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Fechten-Inklusiv in der Presse

Markus Schollmeyer: Der Kampf zurück ins Leben

tz München: Von: Alexander Kaindl

Schlaganfall-Opfer Schollmeyer meistert sein Schicksal mit Rollstuhlfechten. Bei den Bayerischen Meisterschaften im Münchner Werksviertel Mitte gewinnt er erste Medaillen. Doch sein wichtigster Sieg ist ein ganz anderer.

Para Fechten, Rollstuhlfechten

Para Fechten, Rollstuhlfechten

München – Die Sieger des Wochenendes heißen Hüseyin Gasimov und Didier Junk. Bayerns aus Aserbaidschan stammender Para-Sportler des Jahres und sein härtester Konkurrent, der gebürtige Franzose Junk, teilten sich die Gold- und Silbermedaillen bei den bayerischen Meisterschaften im Rollstuhlfechten. Dazu gab’s Gold im Degen-Mannschaftswettbewerb – ein weiterer Erfolg für den gastgebenden Fechtklub München und seine ausgezeichnete Inklusionsabteilung.

Das strahlendste Lächeln im Fecht-Quartier im Werksviertel Mitte liegt auf dem Gesicht von Markus Schollmeyer. Der Rechtsanwalt, Buchautor und ehemalige TV-Moderator bei Sat.1 („Ungelogen“) darf sich zweimal Bronze im Einzel und Gold in der Mannschaft umhängen. „Eine schöne Anerkennung, aber darum geht es mir eigentlich gar nicht“, sagt Schollmeyer, als er sein letztes Säbel-Gefecht am Sonntag nach beherztem Kampf verloren hat. „Das Wichtigste ist, dass ich am Tiefpunkt meines Lebens was Neues angefangen habe.“ Rollstuhlfechten gebe ihm „neue Kraft“, sein Schicksal zu meistern.

Zwei Jahre ist es her, dass Schollmeyers Leben mit gerade mal 50 Jahren auf den Kopf gestellt wurde. Aus heiterem Himmel traf ihn am 9. November 2019 ein Schlaganfall. „Ohne Vorwarnung. Ich hab gesund gelebt und war fit“, blickt er zurück. Linke Körperhälfte gelähmt, Sprachzentrum betroffen. Eine Tragödie für den gebürtigen Münchner, der sich mit quälenden Therapien zurückgekämpft hat und inzwischen auch wieder einige Schritte selbstständig gehen kann.

Die Anwaltskarriere hat Schollmeyer aufgeben müssen, finanziell hilft die Berufsunfähigkeitsversicherung, seine Frau unterstützt ihn, wo es geht. Einen großen inneren Motivator hat Schollmeyer nun vor gut zwei Monaten mit dem Fechten gefunden. „Fußball ging nicht, Boccia war mir zu langweilig, Schießen ist nicht mein Ding“, sagt er. „Aber hier geht mir das Herz auf, hier spür ich mich wieder.“

Zweimal die Woche wird im Werksviertel trainiert. Abteilungsleiter Jürgen Zielinski-Lick, langjähriger österreichischer WM-Fechter (mittlerweile in der Ü60-Klasse), hat das Inklusionsprojekt vor zwei Jahren aus der Taufe gehoben. Er ist der Spiritus Rector, Geschichten wie die von Gasimov, Junk oder eben Schollmeyer sind die Bestätigung für seine Arbeit. „Markus, Gratulation! Nächstes Jahr bei den Meisterschaften bist du genauso reaktionsschnell wie der Hüseyin“, sagt der Steirer bei der Siegerehrung und lächelt. Schollmeyers zackige Antwort: „Na, na, Jürgen, so lang dauert des ned.“

Fechter Hüseyin Gasimov ist Behindertensportler des Jahres

„Niemals aufgeben“ – so lautet das Motto von Rollstuhlfechter Hüseyin Gasimov. Der 31-Jährige wurde nun zu Bayerns Versehrtensportlers des Jahres gekürt.

 

„Niemals aufgeben“ – so lautet das Motto von Rollstuhlfechter Hüseyin Gasimov. Der 31-Jährige wurde nun zu Bayerns Versehrtensportlers des Jahres gekürt. © BR

Die Freude über den Preis war riesig, auch wenn Bayerns Para-Sportler 2020 coronabedingt erst jetzt geehrt werden konnten. Rollstuhlfechter Hüseyin Gasimov sieht die Verleihung als weiteren Ansporn für sein großes Ziel. „Ich möchte zu den Paralympics 2024 in Paris“, schwärmt der Musikstudent.

Bei den deutschen Meisterschaften kämpfte sich Gasimov immerhin schon auf Platz drei. Um sich zu qualifizieren, muss Gasimov es schaffen, sich über die Teilnahme an Weltcups sowie Europa- und Weltmeisterschaften unter die besten 16 Rollstuhlathleten der Welt zu fechten.

Erst Boxen, dann Fechten

Bereits in seiner Kindheit hat er sich voll und ganz dem Leistungssport verschrieben. Bis zu seinem schweren Busunglück war der geborene Aserbaidschaner olympischer Boxer. Seit er 17 Jahre alt ist, sitzt Gasimov querschnittsgelähmt im Rollstuhl. In seiner Heimat war er schon Säbel-Rollstuhlfechter, bis er vor sechs Jahren nach Deutschland kam. Seit Frühjahr 2019 ist er im paralympischen Kader des Projektes „Fechten inklusiv“ in München.

Die drei Musketiere

Die DM der Rollstuhlfechter im Münchner Werksviertel-Mitte ist für den in Bayern gerade erst entstehenden Sport auch eine Werbeplattform – die hiesigen Kaderathleten sammeln unter den Augen von Fechtlegende Volker Fischer schon mal eifrig Medaillen.

7. Juni 2021, 18:51 Uhr, von Sebastian Winter

Foto: Claus Schunk  Der dominierende Rollstuhlfechter nicht nur bei dieser DM: Paralympics-Teilnehmer Maurice Schmidt aus Böblingen.

Foto: Claus Schunk Der dominierende Rollstuhlfechter nicht nur bei dieser DM: Paralympics-Teilnehmer Maurice Schmidt aus Böblingen.

Auch im Rollstuhlfechten müssen sie sich umstellen in diesen Viren-Zeiten. Erstmals war München am vergangenen Wochenende Austragungsort einer deutschen Meisterschaft in diesem Sport, und weil die üblichen Hallen noch gesperrt sind für solche Wettkämpfe, hat der ausrichtende Fechtclub München einen ganz besonderen Ort für diese Premiere gefunden: das Werksviertel-Mitte am Ostbahnhof, wo Künstler und Kreative zuhause sind, Musikhallen – und wo in einer großen Baugrube das Konzerthaus entsteht. Das Scheppern der Säbel und Degen im Technikum, einem der vielen dortigen Veranstaltungsräume, hört man jedenfalls schon von Weitem.

Man darf sich Rollstuhlfechten nicht so vorstellen wie das normale Fechten, wo sich die Konkurrenten auf der 14 Meter langen und etwa zwei Meter breiten Planche ständig vor- und zurückbewegen. Vielmehr sind die Sportrollstühle der Gegner über eine Stahlkonstruktion am Boden miteinander verbunden, lassen sich dadurch also nicht bewegen. Vor dem Kampf wird der richtige Abstand justiert, die Aufgabe der Athleten ist es dann, durch geschicktes Aus- und Zurückweichen mit dem Oberkörper gegnerischen Treffern zu entgehen – und selbst zu punkten.

Maurice Schmidt gelingt diese Akrobatik eindrücklich, gerade hat er seinen zweiten Titel bei dieser DM gewonnen, was nicht verwunderlich ist. Der 21-jährige Sportstudent aus Tübingen ist der wohl beste deutsche Rollstuhlfechter – und bereits für die Paralympics in Tokio qualifiziert. Schmidt, der von Geburt an eine Dysmelie hat, also eine angeborene Fehlbildung von Gliedmaßen, verdient Geld mit seinem Sport, auch durch die Sponsoren, die ihn unterstützen. Davon leben kann er zwar noch nicht, aber immerhin sein Studium damit teilweise finanzieren. „Eine coole Location“ nennt Schmidt den Austragungsort dieser deutschen Meisterschaft, die eigentlich Teil der Finals in Berlin und Rhein/Ruhr sein sollte, dann aber wegen der Masse an dort vertretenen Sportarten aus dem Programm gestrichen wurde.

So weit wie Schmidt sind die bayerischen Athleten längst noch nicht, Rollstuhlfechten als Leistungssport gibt es hier überhaupt erst seit einem Jahr. Seither ist es Teil des Behinderten- und Rehabilitations-Sportverbands Bayern. Ohne Jürgen Zielinski-Lick, Vorstandsmitglied beim Fechtclub München, hätte es diese Entwicklung nicht gegeben. Zusammen mit dem TSV Trudering und dem Fechtclub Gröbenzell hat er damals „das Projekt Rollstuhlfechten“, wie er es nennt, in Bayern initiiert. Sein Ziel ist es, zumindest einen bayerischen Athleten zu den Paralympics 2024 nach Paris oder 2028 nach Los Angeles zu schicken.

Klein, aber erfolgreich (von links): Didier Jung, Denise Hutter, Hüseyin Gasimov repräsentieren den kompletten bayerischen Landeskader im Rollstuhlfechten. Und glänzen bei der DM im Münchner Werksviertel. (Foto: Dominik Nagel/oh)

Klein, aber erfolgreich (von links): Didier Jung, Denise Hutter, Hüseyin Gasimov repräsentieren den kompletten bayerischen Landeskader im Rollstuhlfechten. Und glänzen bei der DM im Münchner Werksviertel. (Foto: Dominik Nagel/oh)

Das ist aber gerade eher noch eine Vision, denn zurzeit gibt es gerade einmal drei Rollstuhlfechter im Landeskader. Zwei der drei, Didier Jung und Hüseyin Gasimov, sind zwar höchst erfolgreich bei der DM im Werksviertel – im Florett und Säbel gewinnt Gasimov jeweils Silber, Jung zweimal Bronze, im Degen holt Jung Silber, Gasimov Bronze. Allerdings haben sie keine deutsche Staatsangehörigkeit. Der Aserbaidschaner Gasimov lebt in einer Flüchtlingseinrichtung in Oberau bei Garmisch-Partenkirchen, Jung ist Franzose und wohnt in München. Einzige Bayerin ist Denise Hutter, 21, aus Gröbenzell. Und die hat vor gerade mal drei Wochen angefangen mit dem Rollstuhlfechten.

Dominik Nagel, Trainer im Fechtclub Gröbenzell, brachte die frühere Tennisspielerin und Judoka im vergangenen Sommer zu ihrem neuen Sport. Nagel war damals nach einer Hüftoperation in einem Rehazentrum in München und begegnete dort Hutter, die zuhause die Treppe heruntergefallen war. Sie hatte Lähmungserscheinungen in beiden Beinen, eine Hand krampfte. Seither sitzt Hutter im Rollstuhl. Der Kontakt zu Nagel bestärkte sie, etwas Neues auszuprobieren, obwohl ihr das als Autistin nicht ganz leicht fällt. Im Mai hielt sie ihren ersten Degen in der Hand, ein paar Trainings absolvierte sie unter Zielinski-Lick im so überschaubaren Landeskader – und ficht nun schon höchst erfolgreich bei der DM. In der Degenkonkurrenz gewinnt sie auf Anhieb Bronze bei den Erwachsenen. „Im Gefecht vergisst man den ganzen Alltag, kann einfach loslegen“, sagt Hutter.

Und das unter den Augen der Fechtlegende Volker Fischer: Der Wahl-Münchner, der 1984 mit der Mannschaft Olympiasieger und 1987 im Einzel-Weltmeister mit dem Degen wurde, ist auch ins Werksviertel gekommen – und sagt beeindruckt: „Ich weiß, wie anstrengend das hier ist.“ Fischer hat selbst als Athlet früher in Tauberbischofsheim mit Rollstuhlfechtern trainiert. Für Denise Hutter dürfte sein Besuch ein zusätzlicher Ansporn sein auf ihrem neuen sportlichen Weg.

Und auf Platz drei der Sieger – SÜDDEUTSCHE ZEITUNG vom

Rollstuhlfechten München

„Eigentlich wollte ich immer Box-Champion werden“, sagt Hüseyin Gasimov. Lange sah es so aus, als ob sich sein Traum erfüllen würde – dann geschah der Unfall. (Foto: Robert Haas)

Hüseyin Gasimov träumte von Olympia. Dann hatte er einen Unfall in einem Land ohne staatliche Krankenversicherung.

Über einen Mann, der eigentlich nicht zu schlagen ist.

Von Elisa Schwarz

Manchmal boxt Hüseyin Gasimov, wenn er eigentlich fechten soll. Er hält den Degen dann ein bisschen schief, so wie jetzt, man sieht seine Faust unter der Glocke, wie sie fester wird, als würde sie krampfen, und dann – ein Stich. Kein Schlag. Locker, sagt Dominik Nagel, sein Trainer, bleib locker.

Mittwochmittag im Werksviertel in München. Oben, wo die Buden stehen, die Picknick-Bänke, und das leere Riesenrad, sitzen ein paar Leute in der Sonne und bestellen noch schnell einen Döner, ein Curry, ein letztes Bier. Vor der Wurstbude stehen zwei Polizeibeamte, trinken Cola, als wäre das völlig normal, und warten. Um 15 Uhr muss hier alles dicht sein, so war ja noch die Regel, bevor es die am Freitag vom Freistaat verhängte Ausgangsbeschränkung gab.
Und so findet unter den Buden und Bänken, im Keller von Werk drei, auch das letzte Rollstuhltraining des Fechtclubs München statt. Zumindest, bis der Corona-Wahnsinn vorbei ist. Sie hatten hier noch gehofft, dass es mit dem Fechten vielleicht etwas länger gehen wird. Fechten ist ja kein Tango. Die Masken, der Abstand, den man ja immer hat. Auch dann, wenn man eher boxt als schlägt.

Hüseyin Gasimov zieht die Maske vom Gesicht, seine dunklen Haare kleben am Kopf. Er sagt nicht viel, er hört vor allem seinem Trainer zu. Hört, wie Nagel sagt, dass man ein Konzept haben muss beim Fechten, ein Konzept für jede Aktion. Dass man zuerst im Kopf gewinnt, und dann in den Armen.

Dass man schnell sein muss wie ein pickender Vogel, schnell, aber nicht wie ein Boxer, präzise, aber gerade im Schlag. Dass er mit dem Oberkörper ausgleichen muss, was sonst seine Füße tun würden – vor, zurück, antäuschen, angreifen. Und während Dominik Nagel weiter spricht, setzt Gasimov die Maske wieder auf. Unter seiner weißen Weste trägt er einen schwarzen Pulli mit einem Muhammad-Ali-Druck.

Wie findet man nach einem schweren Unfall zurück ins Leben? Das fragen ja immer wieder die Ratgeber in irgendwelchen Apotheken-Schaufenstern. Als könnte man aus dem Leben rausfallen wie aus einer Schaukel. Hüseyin Gasimov hat Tage, da fragt er sich einfach nur, wie er es überhaupt aushalten soll, wenn er als Dreißigjähriger weniger kann als ein Kind. Nämlich nicht mal kriechen.

Ein paar Stunden vor dem letzten Training sitzt Hüseyin Gasimov in seinem Rollstuhl in Oberau bei Garmisch-Partenkirchen, im alten Bahnhofsgebäude. Ein abgegriffenes Klavier steht in seinem Zimmer, ein Bett, ein Schreibtisch, und über allem hängt ein weiß-blauer Bayernhimmel an der Decke. Früher war hier mal eine Gaststätte drin, bevor die Stadt dort eine Flüchtlingsunterkunft einrichtete. Die weiß-blaue Farbe ließ man dran, und auch die Reklame außen. „Augustiner“ steht in großen Buchstaben an der Hauswand. „Gasimov“ steht auf einem kleinen Stück Papier an der Tür.

„Eigentlich wollte ich immer Box-Champion werden“, sagt Gasimov leise, weil sein Deutsch noch nicht so gut ist. Er schaut auf den Teppich, an die Wand, seine dattelbraunen Augen bleiben nirgendwo lange hängen. Mit dem Boxen fing alles an, zuhause in Baku, der Hauptstadt von Aserbaidschan.

Da wuchs Gasimov auf, zwischen Wolkenkratzern, von denen er nie die Dächer sehen konnte, so hoch waren die. Nachmittags nervte er die Nachbarn mit seinem Akkordeon oder kloppte sich mit seinen Brüdern. Und als ein Nachbarjunge ihm mal das Gesicht grün und blau schlug, packte sein Vater eine Sporttasche und schickte den Sohn ins Boxen ein paar Häuser weiter.

Sein Trainer sprach russisch, nicht türkisch, er schenkte ihm ein paar russische Flüche und einen Pullover mit einer Katze in Boxhandschuhen. Ansonsten machte er ihn ziemlich fertig. Abends lag Gasimov dann erschöpft im Bett und schaute an die Decke, auf das Bild von Ali, dem Gesandten Mohammeds. 20 Jahre ist das jetzt ungefähr alles her. Aus dieser Zeit ist fast nichts mehr da, nur den Katzenpulli hat er noch. Er ist mittlerweile verblichen wie ein altes Kuscheltier.
Das Boxen jedenfalls ließ ihn nicht mehr los. Gasimov kämpfte sich nach oben bis ins Finale der nationalen Meisterschaft in Baku. Er hat davon ein Video auf dem Handy: Wie er im Ring steht mit 17 Jahren, der stolze Vater daneben, die Brüder, die Mutter, Freunde aus der Schule. Gasimov in roten Shorts, Gasimov mit der starken linken Hand, es läuft „Eye of the tiger“ von Survivor.

Er gewinnt, wird Meister, er träumte von Olympia 2012 in London. Und dann stieg er ein paar Wochen später in einen Bus, wie er es schon so oft getan hatte. Er weiß nicht mehr genau, was dann passiert ist, nur, dass sich der Bus auf einmal überschlug. Dass er aufwachte und nicht atmen konnte, weil so viele Menschen auf ihm lagen. Später spürte er die Hand seines Onkels auf seiner Schulter. Aber seine Beine spürte er nicht mehr.

In Aserbaidschan konnten ihm die Ärzte nicht mehr helfen

Hüsey Gasimov reicht jetzt Kaffee, der nach geschmolzenen Karamellbonbons schmeckt. 15 Minuten kann er stehen, wenn er einen guten Tag hat. Dann zieht er sich an dem beigen Sessel an der Wand nach oben, hält sich fest, zählt die Minuten. Draußen rattert eine leere Bahn am leeren Bahnhof vorbei. Wenn er in München aus der U-Bahn schaut, sagt Gasimov, dann wundere er sich bis heute, dass man den Himmel über den Dächern sehen kann.

Gasimov flüchtete 2015 nach Deutschland, weil ihm die Ärzte in seiner Heimat nicht helfen konnten, sagt er. Zumindest nicht für das Geld, das seine Familie für ihn zusammensparen konnte. In Aserbaidschan gibt es kein staatliches Versicherungssystem. Wer kein Geld hat, hat Pech gehabt.

In Iran sagte ihm ein Arzt, er würde das alles nicht überleben, gab ihm aber einen ausrangierten Rollstuhl. In Deutschland sagte ein Arzt, er würde das alles nicht überleben, wenn er keine Behandlung bekäme. Aber Gasimov ist noch kein anerkannter Flüchtling, und die Operation muss in mehreren Schritten verlaufen, was aufwendig und teuer ist. Also wartet Gasimov.

Er wartet, er lernt Deutsch übers Internet, er würde gerne arbeiten, darf aber nicht, er würde gerne Taxifahren, aber wie soll das gehen, fragt er, wenn er einer Oma nicht den Koffer tragen kann? Und er möchte trainieren, damit er über all dem nicht wahnsinnig wird. Im Herbst vergangenen Jahres fand er dann die Webseite vom Münchner Fechtverein. Ob er vorbeikommen könne in das Training für Rollstuhlfechter. Er habe auch schon mal einen Degen in der Hand gehabt. Und Jürgen Zielinski-Lick, der Vorsitzende des München Fechtvereins, schrieb zurück: „Komm vorbei“.

Jürgen Zielinski-Lick ist so ein Mensch, der mit einer aufdringlichen Freundlichkeit Leute überzeugt. Er steht unten im Keller neben Gasimov und Nagel, dem Trainer, und erzählt, dass er vor fünf Jahren mal verloren habe, gegen einen Fechter im Rollstuhl. Es ging einfach so verdammt schnell. Kein ewiges Rumgetänzel wie beim Fußvolk, so nennt Zielinski-Lick die stehenden Fechter tatsächlich.

Also schmollte er ein paar Tage und gründete dann die Initiative „Inklusives Fechten“. Er fuhr in den Baumarkt, kaufte ein paar Metallstangen und schweißte ein Gestell zusammen, auf dem man die Rollstühle in unterschiedlichen Abständen fixieren kann. Dann suchte er nach Mitgliedern und setzte nebenher sein Fußvolk in die Rollstühle. Schnelligkeit trainieren, Beweglichkeit trainieren, damit sich keiner den Rücken bricht, wenn er mal wieder mehr Dehnung sehen will.

Drei Teilnehmer im Rollstuhl gibt es bisher in München, die je nach Beeinträchtigung in unterschiedliche Wettkampfkategorien eingeteilt werden. Weil Hüseyin Gasimov querschnittsgelähmt ist, aber den Oberkörper frei bewegen kann, ist er Teil der zweiten Kategorie, und in der kämpft er eigentlich ganz gut, sagt Zielinski-Lick. Wenn nicht der Boxer in ihm durchkommt. So wie bei der Deutschen Meisterschaft. Ausgerechnet da.

Im März dieses Jahres fand die Deutsche Fechtmeisterschaft in Böblingen statt, und um optimal darauf zu trainieren, bequatsche Zielinski-Lick das Hotel Bento Inn in München, ob man nicht ein Deal finden könnte: Ein behindertengerechtes Zimmer für 40 Euro statt 69.

Im März war die Welt noch in Ordnung, die Hotels liefen gut, aber die Empfangsdame sagte trotzdem zu, weil sie selbst einen Angehörigen im Rollstuhl pflegt. Gasimov war der erste Gast im frisch renovierten Zimmer, trainierte jeden Mittwoch mit dem Degen und Säbel im Fechtclub München, übernachtete im Hotel, und trainierte am Tag darauf im Fechtclub Trudering. 15 Stunden die Woche.

Die Deutsche Rollstuhlfechtszene ist relativ klein, neun Kontrahenten hatte Gasimov in seiner Kategorie. Im Training sind sie jede Aktion durchgegangen, haben Finten geübt, solange, bis Gasimov ein Gefühl bekam, zumindest ein theoretisches Gefühl. Manchmal zimmerte Gasimov so fest auf Zielinski-Lick und Nagel ein, dass sie irgendwann eine gepolsterte Hose anzogen. Macht sonst im Fechten kein Mensch. Wenn wir es schaffen, die Kraft zu bündeln, sagte Zielinski-Lick damals zu Gasimov, dann schaffen wir das. Nach dem Training gingen sie ein paar Bier trinken. Sein russischer Trainer, sagt Gasimov, hätte ihn vor die Tür gesetzt, wenn er ihn mit einem Bier gesehen hätte. Dafür rauchte er heimlich.

Was dann genau los war, im Halbfinale der Deutschen Meisterschaften, das weiß Hüseyin Gasimov nicht mehr genau. Es ging halt schief. Jürgen Zielinski-Lick stand an der Bande und brüllte: locker, bleib locker, aber Gasimov hörte ihn gar nicht mehr. Er hielt den Säbel in der Faust und schlug schon zu, da hatte der Schiedsrichter noch nicht mal das Startzeichen gegeben.

Hüseyin Gasimov wurde Dritter bei der diesjährigen Meisterschaft im Rollstuhlfechten. So viele Strafpunkte bekam er. Und während Zielinski-Lick hundert mal gestorben ist, wie er im Trainingskeller mindestens hundert mal betont, sagt Hüseyin Gasimov: „Ich habe mich gespürt.“ Und vielleicht ist das der größte Sieg von allen.